von Ines Zöttl
9 Min.
Vor den Wahlen in den USA spüren die Gewerkschaften Rückenwind. Sie nutzen den Frust über Ungleichheit und Inflation – und wollen jetzt die deutschen Autobauer im Süden erobern
Wenn Moesha Chandler nach der zehnstündigen Schicht im Mercedes-Werk in Alabama nach Hause kommt, hat sie oft keine Kraft mehr, sich etwas zu essen zu machen. Sie lässt sich dann einfach aufs Sofa fallen und schläft. „Manchmal dusche ich nicht mal“, gibt die junge Frau mit einem schuldbewussten kleinen Lächeln zu.
Auch heute hat Chandler einen langen Tag am Band verbracht, an der Position für die Motorhaubenverriegelungen. Nach der Arbeit aber ist sie diesmal nicht heimgefahren, sondern zum Büro der Gewerkschaft. Nur ein paar Minuten dauert die Fahrt: vom Mercedes Drive über den Daimler Benz Boulevard entlang der Landstraße, an der mehr Kirchen als Tankstellen Kraft für die Reise versprechen. Der Kontrast zwischen der riesigen, schmucken Autofabrik, deren weiße Hallen in der Sonne strahlen, und dem Refugium der Arbeitnehmervertretung könnte nicht größer sein. Der War Room von UAW Local 112 Mercedes ist nur ein Raum im Erdgeschoss einer Mall, deren größte Attraktion die Filiale von Dollar General ist.
Im November, nach dem spektakulären Tarifabschluss der UAW mit den Detroiter Autokonzernen, ist Chandler der Gewerkschaft beigetreten. Ihr Bruder arbeitet bei Ford in Michigan, gerade war er zu Besuch. Beim Essen im Restaurant habe er ständig nachbestellt, erzählt sie staunend. „Wir haben ihm gesagt, hör auf. Aber er hat sich überhaupt keine Sorgen ums Geld gemacht.“
Die Aktivistin trägt ihr schwarzes Arbeitsshirt mit dem Mercedes-Logo drauf. In einer Ecke stapeln sich frisch gedruckte Solidaritätsplakate. Aus den Kartons, die jemand auf dem billigen Filzteppich abgestellt hat, quillt der rote Stoff von T-Shirts. Doch viel wertvoller als das Propagandamaterial ist etwas anderes: An der Wand hängen Listen mit Namen, viele davon sind gelb markiert. Mindestens 30 Prozent der Arbeiter müssen unterschreiben, bevor nach US-Recht über eine Gewerkschaftsgründung abgestimmt werden darf. Sie haben über 70 Prozent gesammelt und die Wahl beantragt. Sie greifen nach dem Stern, der auf den Motorhauben glänzt.
Drei Jahrzehnte hat die UAW vergeblich versucht, in den Südstaaten Fuß zu fassen. Nun sieht sie die Chance zum Durchbruch – ausgerechnet bei Volkswagen und Mercedes. Die Ausgangsposition ist so gut wie nie: In Washington regiert ein Präsident, der sich selbst einen „Gewerkschaftskerl“ nennt. Die Zustimmung in der Öffentlichkeit ist so hoch wie seit den 60er-Jahren nicht. Und die robuste Konjunktur hat die Kräfteverhältnisse zugunsten der Arbeitnehmer verschoben.
Als Mercedes das Städtchen Vance in Alabama als Standort für sein erstes großes Auslandswerk wählte, geschah das aus zwei Gründen: Die Lohnkosten waren hier niedrig – und die Subventionen hoch. Mit 253 Mio. Dollar bezuschusste einer der ärmsten Bundesstaaten der USA den Bau der 300-Mio.-Dollar-Fabrik. Genauso hielt es die Konkurrenz: BMW siedelte sich in South Carolina an, Volkswagen und Nissan landeten in Tennessee. Honda und Hyundai bauten ebenfalls in Alabama, Toyota in Kentucky. Der Umstieg auf die Elektromobilität hat den Sog gen Süden noch verstärkt. „Das Gleichgewicht hat sich verschoben“, urteilt das Forschungsinstitut S&P Global Market Intelligence. In den nächsten Jahren werde der Süden einen größeren Anteil an der Autofertigung erringen – zulasten des Mittleren Westens, wo das Herz der Industrie einst zu schlagen begann.
Allein Mercedes investiert in den Bau der Batteriefabrik in Alabama und die E-Umrüstung 1 Mrd. Dollar. Das Werk platzt aus allen Nähten. Seit 1997 der erste SUV vom Band rollte, hat sich die Zahl der Beschäftigten auf über 6000 verfünffacht. Eines aber hat sich nicht verändert: Als einziges Werk weltweit hat Vance keine Arbeitnehmervertretung.
Es gab mehrere Anläufe, das zu ändern. Bei Mercedes und auch bei Volkswagen in Chattanooga im benachbarten Tennessee. Bisland scheiterten alle Versuche. „Der Süden war das Waterloo der amerikanischen Arbeiterschaft, die Nuss, die sich nie knacken ließ“, schrieb der Autor und „New York Times“-Journalist Peter Applebome. Der UAW gelang es nicht, ihren Einfluss über die „Big Three“ General Motors, Ford und Chrysler (heute Stellantis) hinaus auszudehnen. Rund die Hälfte der Produktion findet heute in nicht organisierten Unternehmen statt.
In diesem Frühjahr probiert die UAW es erneut bei den deutschen Autobauern: Mitte April beschlossen die Volkswagen-Beschäftigten in Tennessee, sich gewerkschaftlich organisieren zu wollen. 73 Prozent der Arbeiterinnen und Arbeiter sprachen sich dafür aus. Mitte Mai folgen die Angestellten des Mercedes-Werks in Vance und stimmen über eine Vertretung durch die UAW ab.
Eine tiefe Abneigung
Im individualistisch geprägten Amerika haben Gewerkschaften seit jeher einen schweren Stand. Gerade einmal jeder zehnte Arbeitnehmer war 2023 noch organisiert, in der Privatwirtschaft ist der Anteil mit sechs Prozent noch geringer. Auch die einst so mächtige UAW hat einen dramatischen Niedergang erlebt. 391.000 Mitglieder zählt sie noch, verglichen mit 1,5 Millionen 1979.
Im spät industrialisierten Süden sahen – und sehen – die Republikaner gewerkschaftsfreie Zonen als starkes Argument für die Investorenakquise. „Wenn ein Unternehmen wie Mercedes eine Gewerkschaft bekäme, würde das meiner Fähigkeit schaden, Unternehmen für Alabama zu rekrutieren?“, fragte der damalige Gouverneur Robert Bentley bei einem Auftritt im Werk vor zehn Jahren und fuhr unheilschwanger fort: „Das würde es absolut.“
Auch seine Nach-Nachfolgerin interveniert offen. Die „Bedrohung aus Detroit“ gefährde Alabamas Wirtschaftsmodell, warnt Kay Ivey. Es gelte zu verhindern, dass eine „Interessengruppe von außerhalb des Bundesstaates den Menschen hier Hoffnung und Prosperität nimmt“. Die Autogewerkschaft dürfe „Alabama nicht antun, was sie Detroit angetan hat“, sekundiert Helena Duncan, Präsidentin des Business Council of Alabama. Die Parlamente von Alabama und Georgia beraten Gesetzesentwürfe, die denjenigen Unternehmen, die Gewerkschaften freiwillig anerkennen, Subventionen streichen. Tennessee hat das Verbot bereits in Kraft gesetzt.
Das Management der deutschen Unternehmen beteuert seine Neutralität. Interviewanfragen lehnen beide ab. Die Entscheidung liege bei den Beschäftigten, erklärt VW schriftlich. „Wir glauben, dass eine offene und direkte Kommunikation mit unseren Teammitgliedern der beste Weg ist, um den anhaltenden Erfolg zu gewährleisten“, schreibt Mercedes. Die Erfahrung aber lehrt, dass die Neutralität Grenzen hat.
Exklusiv
Autogewerkschaft UAW Mächtigster US-Gewerkschafter: „Die Arbeiter haben die Schnauze voll“
Vor den Wahlen in den USA spüren die Gewerkschaften Rückenwind. Sie nutzen den Frust über Ungleichheit und Inflation. Autogewerkschaftsboss Shawn Fain will nun auch die deutschen Autobauer Mercedes und Volkswagen erobern
In den USA ist das Tarifrecht bis ins Detail gesetzlich geregelt. Wo es Gewerkschaften gibt, haben diese weitgehende Rechte bei allen Arbeitsbedingungen. So durften Firmen während der Pandemie ohne deren Zustimmung nicht mal eine Maskenpflicht im Betrieb verhängen. Auch mit der weit verbreiteten Praxis einer Kündigung Knall auf Fall wäre Schluss. Für amerikanische Firmen, ob Amazon oder Starbucks, sind Gewerkschaften ein rotes Tuch.
Stephen Silvia, Professor an der American University in Washington, hat sich mit der Frage beschäftigt: Bringen multinationale Konzerne die Werte ihrer Heimat mit, wenn sie ins Ausland expandieren – oder passen sie sich an? Für die deutschen Autobauer lautet seine Antwort: Letzteres. „Das Mercedes-Management hat erklärt, neutral zu sein, hat aber die Gewerkschaft jedes Mal bekämpft“, sagt Silvia. Bei VW habe diese Art der eigenen Amerikanisierung etwas länger gedauert. In seinem Buch „The UAW’s Southern Gamble. Organizing Workers at Foreign-Owned Vehicle Plants“ beschreibt Silvia, wie die Konzerne kräftig mitwirkten, um die Organisierung zu verhindern.
Die systematische Abwehr, genannt union busting, ernährt eine ganze Branche spezialisierter Anwaltskanzleien. Zum Waffenarsenal gehören Maßregelungen der Aktivisten und zwangsweise Betriebsversammlungen, in denen die Chefs Schauergeschichten erzählen, Druck machen und Zweifel säen. Arbeiter sollten „keine Beiträge zahlen müssen, die Millionen Dollar jährlich für eine Organisation schaffen, bei der es keine Transparenz über die Verwendung des Geldes gibt“, unkte der US-Chef von Mercedes, Michael Göbel, bei einer Veranstaltung im Februar laut „Bloomberg“. Ein Sprecher des Konzerns erklärte dazu, Mercedes teile „Fakten und Meinungen“, um seinen Mitarbeitern „eine fundierte Entscheidung zu ermöglichen“.
Der Kampf um Mercedes
„Erst gestern mussten wir bei Mercedes wieder so ein Video anschauen“, erzählt Jeremy Kimbrell. Der untersetzte Mittfünfziger stand mit 22 zum ersten Mal am Band. In diesem Jahr feiert er sein 25-jähriges Jubiläum. Doch stolz auf den Job beim deutschen Luxushersteller ist er nicht, nicht mehr, wie er sagt. Für ihn selbst sei es nicht mal schlecht gelaufen, räumt Kimbrell ein. Er blieb von der Kündigungswelle nach der Finanzkrise verschont, und mit einem Stundenlohn von 32 Dollar liegt er am oberen Ende der Skala. Das klingt für deutsche Ohren üppig, aber das Leben in Amerika ist teuer und die Absicherung für Krankheit oder Alter rudimentär. Vor allem aber vermisst Kimbrell: „Respekt.“
Dass Mercedes 2020 eine zweite niedrigere Gehaltsstufe für neu eingestellte Arbeiter einführte, hat ihn wütend gemacht. Er klagt über willkürliche Versetzungen, abrupte Schichtwechsel und zwangsweise angeordnete Überstunden. Kimbrell fährt im Hyundai zur Arbeit, zu Hause wartet ein Pick-up der Marke Chevy Silverado auf ihn. Schon 2014 hat er für eine Gewerkschaftsgründung bei Mercedes gekämpft. Erfolglos. Diesmal sei die Stimmung anders, ist Kimbrell überzeugt. Sie haben 1800 UAW-Basecaps verteilt, und von den Jungen würden sich manche tatsächlich trauen, die Kappen im Werk zu tragen: „Das hat es früher nicht gegeben.“
Ein neuer Arbeiterführer
Zum gewachsenen Selbstbewusstsein trägt die gute Wirtschaftslage bei. Sie könnte jederzeit einen anderen Job finden, sagt Moesha Chandler. Die beiden Söhne von Kimbrell haben sich für einen anderen Arbeitgeber entschieden. Zudem hat die Bewegung prominente Unterstützer: „Ich gratuliere“, erklärte US-Präsident Biden, nachdem die Gewerkschaft bei Volkswagen die Abstimmung durchgeboxt hatte. „Ich finde, auch amerikanische Arbeiter sollten eine Stimme am Arbeitsplatz haben“, empfahl Biden den deutschen Konzernen.
Erst wurden sie verprügelt, dann sorgte die US-Autogewerkschaft UAW für den Aufstieg der amerikanischen Mittelklasse. Es folgten Krisen – doch nun meldet sich die Gewerkschaft mächtig zurück
Der stärkste Rückenwind allerdings kommt aus Detroit, 1200 Kilometer von Vance entfernt. Shawn Fain hat den Klassenkampf belebt – und die erste Runde ging an ihn. In einem sechswöchigen Streik rang der frisch gebackene UAW-Chef den „Big Three“ im vergangenen Jahr Zugeständnisse ab, die Beobachter für unmöglich gehalten hatten: eine 25-prozentige Lohnerhöhung, die Rückkehr zum Inflationsausgleich und das Recht zu Streiks bei geplanten Betriebsschließungen.
Seinen Aufstieg verdankt der 55-Jährige einer Revolte in den eigenen Reihen. Nach einer Serie von Korruptionsvorfällen, die zwei frühere UAW-Präsidenten ins Gefängnis brachte, setzten die Reformer eine Mitgliederabstimmung durch. Der Sieger, der gern die Bibel zitiert, stürzte sich mit archaischer Entschlossenheit in den Konflikt: Auge um Auge. Zahn um Zahn.
Ob er nicht das Risiko scheue, dass der Streik die US-Wirtschaft zerstöre, wurde Fain gefragt: „Wir werden nicht die Wirtschaft zerstören“, antwortete er: „Wir werden ihre Wirtschaft zerstören, die Wirtschaft, die nur für die Milliardärsklasse funktioniert.“ In den letzten vier Jahren seien die Autopreise um 30 Prozent gestiegen, die Gehälter der CEOs um 40 Prozent. Nur bei den Arbeitern sei nichts angekommen.
Im Kampf gegen Mercedes zieht Fain alle Register. Anfang April legte die UAW Beschwerde in Deutschland wegen Verstoßes gegen das seit Anfang 2023 geltende Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz ein. Mit dem Vorgehen gegen die Aktivisten in Alabama verletzte das Unternehmen deren Menschenrechte, sagt Fain: „Wie kann es sein, dass sich Mercedes in Deutschland in einer bestimmten Weise verhält und in Amerika völlig anders“, fragt er wütend im Capital-Interview. „Wir werden alle Möglichkeiten nutzen, die wir haben. Genauso wie die Unternehmen das machen“, droht er. „Wir stehen an einem entscheidenden Moment unserer Generation, um für die Arbeiterklasse in Amerika Sicherheit zu erringen.“
Mercedes weist die Vorwürfe unfairer Praktiken zurück. „Bei der Mercedes-Benz Group erkennen wir das Recht unserer Beschäftigten auf Bildung von Arbeitnehmervertretungen an“, erklärt eine Sprecherin. Das Werk in Vance greife nicht in das Recht von Mitarbeitern ein, eine Gewerkschaftsvertretung zu etablieren.
Während er nach außen die Tonlage hochdreht, hat Fain die Organisation im Inneren zu einer schlagkräftigen Truppe umgebaut, die Strategie und die Kommunikation überarbeitet. Rund 40 Mio. Dollar gibt die UAW aus, um die 13 gewerkschaftsfreien Autobauer zu knacken. Auch Tesla ist im Visier.
Mehrere tariffreie Unternehmen haben bereits nach dem Abschluss von Detroit die Löhne erhöht. Auch Mercedes legt Kimbrell zufolge 2 Dollar drauf. Doch der Gewerkschafter ist sich sicher, dass das der Kampagne nicht den Wind aus den Segeln nehmen wird, im Gegenteil. Bei Volkswagen 300 Kilometer nordöstlich war die UAW nun erfolgreich, die Beschäftigten organisieren sich künftig gewerkschaftlich. Die Aktivisten in Vance sind entschlossen, bald nachzuziehen. „Wir trauen ihnen nicht. Wir brauchen einen Tarifvertrag“, sagt Chandler.
Ein bisschen wirkte auch der Zufall mit bei der jüngsten Kampagne. Einige Webseiten aus früheren Anläufen waren immer noch in Betrieb, als in Detroit die Tarifverhandlungen liefen. Plötzlich fanden sich auch auf den alten Seiten Hunderte neue Unterschriften. So fiel der Entschluss, den Kampf noch mal aufzunehmen. Nach dem alten Motto der Metallarbeiter: „Schmiede das Eisen, solange es heiß ist.“
Erschienen in Capital 5/2024
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